Das englische Insolvenzverfahren gilt im europäischen Vergleich als das verbraucherfreundlichste Verfahren. Im Falle einer Insolvenz haben
Schuldner daher häufig ihren Lebensmittelpunkt nach England verlegt, um eine schnellere Restschuldbefreiung herbeizuführen. Bekannter Weise wird Großbritannien am 31.01.2020 aus der EU ausscheiden.
Es soll dann innerhalb der sog. Transition Period bis 31.12.2020 zu detaillierten Verträgen der zukünftigen Zusammenarbeit kommen. Scheitern diese Verhandlungen jedoch, wäre wiederum die Gefahr eines
sog. "harten" Brexit, also eines Austritts ohne Vereinbarungen, denkbar. Bei einem „harten“ Brexit werden sich Veränderungen ergeben. Betroffene sind klug beraten, sich hierbei im Vorfeld
qualifiziert beraten zu lassen.
Die englische Restschuldbefreiung muß innerhalb der EU, also auch in Deutschland und Österreich, automatisch anerkannt werden. Dies ergibt sich aus der
EU Verordnung 2015/848 des Europäischen Parlaments über die Behandlung von europäischen Insolvenzverfahren (EuInsVO). Nach Art. 19 Abs. 1 EuInsVO wird die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch
ein nach Art. 3 EuInsVO zuständiges Gericht in allen übrigen Mitgliedsstaaten automatisch anerkannt, sobald die Entscheidung im EU Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist. Ein Gericht ist nach Art.
3 EuInsVO immer dort zuständig, wo der Schuldner den Mittelpunkt seiner persönlichen und wirtschaftlichen Interessen (Fachbezeichnung "center of main interest", Abk. „COMI“) hat. Dieser "COMI" ist
dabei der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich und regelmäßig seinen familiären, gesellschaftlichen und beruflichen Interessen nachgeht. Nach Art. 32 Abs. 1 EuInsVO sind auch sämtliche zur
Durchführung und Beendigung des Insolvenzverfahrens ergangenen Entscheidungen anzuerkennen, wenn diese von dem Gericht getroffen worden sind, dessen Eröffnungsentscheidung nach Art. 16 EuInsVO
zuständig war.
Deutsche oder österreichische Gerichte haben hierbei keine Befugnis, Entscheidungen der Gerichte eines anderen Staates, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, zu
prüfen oder anzuzweifeln. Infolgedessen dürfen deutsche oder österreichische Gerichte auch nicht ohne weiteres prüfen, ob die englischen Gerichte für die Durchführung des Insolvenzverfahrens
überhaupt zuständig waren. Nach Auffassung des deutschen BGH (Urteil vom 10.09.2015 – IX ZR 304/13) gebietet dies der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Die Zuständigkeitsfrage kann bei
Insolvenzverfahren, die in England eröffnet wurden, deshalb nur durch die englischen Gerichte selbst geprüft werden.
Die deutschen Gerichte können sich nach Art. 33 EuInsVO nur dann weigern, eine englische Restschuldbefreiung anzuerkennen, wenn die Anerkennung offensichtlich gegen die
in Deutschland geltende öffentlichen Ordnung oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des Einzelnen widersprich (sog. ordre public - Vorbehalt). Ein Verstoß gegen die inländische
öffentliche Ordnung liegt nach der Entscheidung des BGH (Urteil vom 10.09.2015 – IX ZR 304/13) jedoch nicht vor, wenn beispielsweise ein englisches Gericht einen in seinem Zuständigkeitsbereich
allein zur Erlangung der Restschuldbefreiung begründeten Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen eines Schuldners anerkennt.
Dennoch sollte hier klar sein: Wer seinen "COMI" in England nur zum Schein aufbaut oder vorgibt, dort seinen hauptsächlichen persönlichen und wirtschaftlichen
Mittelpunkt zu haben, in Wahrheit aber z.B. in Deutschland oder Österreich wohnt, lebt und arbeitet, wird sich erheblichen Risiken aussetzen, dass seine dann möglicherweise "zu Unrecht" erhaltene
Restschuldbefreiung einerseits von deutschen oder österreichischen Gerichten angezweifelt und sogar die Gefahr droht, dass diese von englischen Gerichten rückwirkend wieder aberkannt wird.
Zunächst muss betont werden, dass es bis dato keine gesetzlichen Regelungen gibt, wie die Anerkennung einer britischen Restschuldbefreiung nach dem
BREXIT eindeutig geregelt ist. Sollte es aufgrund gescheiterter Verhandlungen zwischen England und der EU in 2020 zu einem "harten" Brexit kommen, also einem Brexit ohne einem Austrittvertrag, wird
die Sache sogar noch komplizierter. Insofern kann derzeit nur spekuliert werden, welche Rechtsgrundsätze gelten werden, wenn Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU ist.
Insofern sind die folgenden Ausführungen rechlich nicht abgesichert, sondern sollen Ihnen in erster Linie eventuelle Risiken aufzeigen und Handlungsempfehlungen
geben.
Scheidet Großbritannien als Mitgliedsstaat aus der Europäischen Union aus, könnten möglicherweise Entscheidungen, die in einem englischen Insolvenzverfahren ergangen
sind, nicht mehr ohne weiteres gemäß der EuInsVO automatisch anerkannt werden, wenn ein Austrittsabkommen nichts diesbezüglich regelt.
Bei einem „harten“ Brexit wären dann eventuell nationale Regelungen (in Deutschland die InsO) relevant.
In Deutschland stellt § 343 Abs. 1 InsO hierbei den Grundsatz auf, dass die Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens in Deutschland zunächst grundsätzlich
vollumfänglich anzuerkennen ist. Entsprechendes gilt nach § 343 Abs. 2 InsO auch für Entscheidungen, die zur Durchführung oder zur Beendigung des anerkannten Insolvenzverfahrens ergangen sind. Nach §
343 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 InsO gilt dies jedoch nicht, wenn die Anerkennung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, insbesondere mit den Grundrechten (ordre public
- Vorbehalt) offensichtlich nicht vereinbar wäre. Darüber hinaus würden nach § 343 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 InsO Entscheidungen eines ausländischen Insolvenzverfahrens auch dann nicht anerkannt werden, wenn
die Gerichte des Staates der Verfahrenseröffnung für den Schuldner gar nicht zuständig waren, z.B. weil sein COMI woanders lag.
Im Grundsatz bedeutet dies, dass es nach dem Brexit von zentraler Bedeutung sein wird, ob durch den Schuldner ausreichend bewiesen werden kann, inwieweit das englische
Gericht für die Verfahrenseröffnung auch tatsächlich zuständig war. Insbesondere in Fällen, in denen ein Schuldner seinen Lebensmittelpunkt nur aus dem Grund von Deutschland nach England verlegt oder
verlegt hat, nur um möglichst schnell schuldenfrei zu werden (sog. Insolvenztourismus), könnte ein deutsches Gericht die Zuständigkeitsfrage verneinen und dadurch die englische Restschuldbefreiung
nicht anerkennen. Der ordentlich, unangreifbare COMI hat also eine zentrale Bedeutung.
Nach einem "harten" Brexit hat das Vereinigte Königreich zunächst gegenüber der EU den Status eines Drittstaates. Eine automatische Anerkennung des Insolvenzverfahrens
innerhalb der Europäischen Union einschließlich einer erteilten Restschuldbefreiung erfolgt dann nicht mehr automatisch, wenn ein Austrittsabkommen nichts anderes regelt. Findet also ein „harter“
Brexit statt, muss vor Anerkennung insbesondere die Zuständigkeitsfrage geklärt werden. Dies kann zu einer Unsicherheit für den betroffenen Schuldner führen, dem die Restschuldbefreiung in England
erteilt wurde, da es eventuell passieren könnte, dass ein deutsches Gericht diese Restschuldbefreiung aufgrund fehlender Zuständigkeit der englischen Gerichte nicht anerkennt (ordre public Verstoß
wegen Anzweifelung des COMI).
Nichts zu befürchten und völlig unangreifbar macht sich ein Schuldner jedoch dann, wenn er beispielsweise einen ordentlichen, verifizierbaren und
nachprüfbaren COMI in Großbritannien vor der Verfahrenseröffnung eingerichtet hat, nach Abschluss des Verfahres sowieso nicht mehr vorhat, dauerhaft wieder in Deutschland und Österreich zu leben oder
kein nennenswertes Vermögen mehr in Deutschland oder Österreich hat. Denn dann sind eventuelle Erfolgssaussichten von Gläubigern, das Verfahren in Deutschland gerichtlich angreifen zu wollen,
ausserordentlich gering bis Null.
Trotz Brexit sind wir der Meinung, dass das verbraucherfreundliche englische Insolvenzverfahren grundsätzlich immer noch dem deutschen Insolvenzverfahren mit all seinen
langjährigen Fristen und Fallstricken der Versagung der Restschuldbefreiung vorzuziehen ist.